10. Oktober 2017 | Marathon-News

Steffen Häntzschel: „Ich will mit meinen Kindern bei einem Marathon ins Ziel laufen.“

„Der Esslinger Marathonläufer Steffen Häntzschel hat ein großes Ziel: ‚Ich will für Deutschland laufen.‘“ So begann vor neun Jahren ein Beitrag auf dem Laufportal von „German Road Race“ über einen damals 26 Jahre alten Marathonläufer. Der hatte damals – 2008 – mit Siegen beim Schwarzwald- und Ermstal-Marathon auf sich aufmerksam gemacht, ein Jahr später lief er beim Frankfurt-Marathon unter 2:30 Stunden. Und der Self-Made-Athlet, der sich seine Trainingspläne selbst austüftelte und seinen Wettkampfkalender nach eigenem Befinden kreierte, hatte große Pläne. Eine Zeit von 2:15 Stunden über die 42 Kilometer hielt er für machbar.

Steffen Häntzschel galt als begabt. In der Schule, als Sechstklässler, fiel sein Lauftalent das erste Mal auf, als er die 1000 Meter unter drei Minuten lief. „Das ist aber schnell“, wurde ihm gesagt. Beeindruckt hat ihn das zunächst nicht. Erst mit 21 begann er, ernsthaft und regelmäßig zu trainieren und den therapeutischen Wert des Laufens zu entdecken. „Ich konnte beim Laufen immer meinem Unfall verarbeiten, bei welchem ich mein linkes Augenlicht komplett verlor“, sagt er. Als er 2009 beim Frankfurt-Marathon als drittbester Deutscher in die Festhalle einlief, noch vor 5000-Meter-Olympiasieger Dieter Baumann, begann er von den Europameisterschaften 2010 zu träumen. „Heute weiß ich, dass das Ziel und vor allem der Preis viel zu hoch waren“, sagt inzwischen 35-jährige IT-Berater aus Stuttgart.

Hinter ihm liegt ein schmerzhafter Weg. Für sein Ziel schraubte er das Trainingspensum höher und höher, lief mehr als 200 Kilometer in der Woche. Viel Training, aber wenig Regeneration – das Missverhältnis sollte sich rächen. „Ich wollte mehr, habe aber nie auf meinen Körper gehört“, so Häntzschel. Der Körper sagte 2011 Stopp. Beide Hüften waren kaputt, „mein Alltag war geprägt von Schmerzen“, erzählt Steffen Häntzschel. „Ich konnte nicht liegen, nicht sitzen. Gehen war eine Qual.“ Es folgten Operationen, er stürzte in eine tiefe Lebenskrise, fand lange Zeit nicht die richtigen Ärzte: „Keiner hat sich so richtig ran getraut“, sagt er. Erst in diesem Frühjahr fühlte er sich in den richtigen medizinischen Händen, ließ sich erneut operieren. Mit Erfolg. Er begann wieder zu laufen. „Die ersten Schritte, der erste geschaffte Kilometer waren wie eine Befreiung. Unbeschreiblich“, erzählt er. Und die ersten Läufe waren ein Feldzug gegen die Scham: „Ich hatte 20 Kilo zugenommen“, sagt Häntzschel. Ein halbes Jahr später atmet er durch: „Ich habe wieder Spaß am Laufen, weil ich schmerzfrei bin.“

Jetzt, im Herbst 2017, nach sechs Jahren schmerzhafter Quälerei sieht er sich am Ende seines Leidenswegs: „Ich war mal Läufer. Und darf mich wieder so bezeichnen.“ Dreimal in der Woche geht er wieder laufen, 20 Kilometer sind ohne Probleme und vor allem ohne Schmerzen machbar. Auf seinen früheren Ehrgeiz und Anspruch schaut er heute sehr kritisch zurück: „Im Nachhinein war es ein großer Fehler, es so übertrieben zu haben.“ Doch den viel größeren Benefit des Laufens spürt er wieder – oder nach wie vor. „Laufen ist für mich immer wieder Erdung. Wie eine Therapie und Medizin im Alltag, die von jetzt auf gleich wirkt“, sagt er. „Jetzt, wo ich es wiederhabe, merke ich, wie sehr es mir gefehlt hat.“

Und künftige Ambitionen? „Hab ich“, sagt der zweifache Familienvater. „Ich will mit meinen Kindern bei einem Marathon ins Ziel laufen.“

Am 29. Oktober wird er zurückkehren zum Frankfurt-Marathon – mit der AOK-Heldenstaffel, in der er mit anderen Läufern unterwegs ist, die sich gleichfalls aus einer Lebenskrise befreit haben. Er wird wieder in die Festhalle einlaufen – diesmal mit ganz anderen Gefühlen.

Steffen Häntzschel (rechts), 2009 drittbester Deutscher beim Mainova Frankfurt Marathon