14. Januar 2020 | Marathon-News

Volle Power!

Stille hat viele Facetten. Sie kann Anspannung bedeuten, oder Erschöpfung. Die Sekunden vor dem Startschuss des Marathons sind so ein Moment der Anspannung, in dem alles stillzustehen scheint. Zum letzten Mal am Renntag des Mainova Frankfurt Marathon. Denn danach herrscht nämlich ein Dauerzustand von „Power“, wie Jim und Ally Quinn sagen würden, zwei positiv-verrückte Kalifornier, die als Duo „Q2“ mithelfen, dass der Laufklassiker am Main kein bisschen leise ist. Wer den beiden Amerikanern begegnet, der hat entweder 2,5 Kilometer des Marathons bewältigt oder eine Vorliebe für „Gospel-Soul-Rock“. Von weitem könnte man denken, Superstar Adele würde ein Open-Air-Konzert geben. Denn so ähnlich klingt Allys Stimme. Bei ihr dreht sich alles um „Power“, und sie ist trotz ihrer geringen Körpergröße eigentlich unübersehbar: Orangefarbene Brille und schwarze Mütze, dazu der Schellenring in ihrer rechten Hand, den sie rhythmisch zu ihrer selbstkomponierten Marathon-Hymne schwingt: „You can hear the city sing: Run the skyline“, singt sie dem vorbeilaufenden Pulk an der Taunusanlage zu. „Rock n‘ Roooll“, entgegnet ihr ein sichtlich angetaner Teilnehmer. Für solche Momente kommt Allys Partner Jim ins Spiel, ein bevorzugt non-verbaler Kommunikator, der dem begeisterten Läufer bestätigend zunickt und die Hand ausstreckt. High-Five! Wer ihn an der Gitarre sieht, empfindet das Bild des verrückten Rockers bestätigt. Schwarze, zurückgekämmte Haare, ein Ziegenbart, der ihn etwas reifer wirken lässt und das dumpfe Gefühl, es handle sich um eine amerikanische Version von Bela B. „Wir spüren die Energie des Marathons“, sagt das Musiker-Ehepaar fast ehrfürchtig. Am letzten Oktobersonntag haben sie traditionell eine Verabredung mit dem Mainova Frankfurt. Zum 15. Mal in Folge sind sie schon dabei.

 

Da geht es gut 20 Kilometer weiter ein bisschen experimenteller zu – obwohl an dieser Stelle, in Schwanheim, ein zum Marathon gehörendes Original steht. Seit 1993 spielt Heinz Berg am Streckenrand Querflöte. Aber nicht auf die klassische Art. Bands wie Deep Purple oder AC/DC auf den üblichen Instrumenten zu covern, das wäre dem musikalischen Individualisten zu langweilig. Stattdessen ergänzt seine Flöte den instrumentalen Sound der „Klassiker“, wie er sie nennt. „Highway to Hell, schnelle Stücke. Das geht gut ab“, erklärt Heinz Berg, der längst eine Fanschar unter den regelmäßigen Teilnehmern hat. Besonders die Rockmusik würde es den Läufern antun, das sei für sie „absolute Power“. Ein Begriff, der auch ihm nicht fremd ist. Und der umso wichtiger wird, wenn es nicht mehr so dicht wie in der Innenstadt zugeht. Sondern wenn die Strecke leerer wird, die Zuschauer weniger und die Zweifel wachsen, ob man es tatsächlich noch bis zur Festhalle schafft. Dass aber spätestens nach weiteren gut 20 Kilometern der Spielraum für logische Gedanken endgültig auf ein Minimum geschrumpft ist, wird fast schon metaphorisch von „Ten On Tons & Friends“ unterstrichen. Eine Band, die in orangefarbenen Müllabfuhrwesten auftritt und sich offenbar zum Ziel genommen hat, ihre Zuhörer mit maximaler Wucht an die Wand zu trommeln. Ihre Bongos führen in Kombination mit sambaähnlichem Gesang an die Copacabana und in den Slum gleichzeitig – jedoch mit maximalem Taktgefühl. Diese Band will polarisieren und das tut sie auch. Anne Breick, die Kopf und Herz der Truppe ist, mag zwar deutsch aussehen, in ihren Venen fließt jedoch brasilianisches Blut. Kurze, blondierte Haare, temperamentvolle Gestik, laute Stimme, strahlendes Lächeln: Eine wirkmächtige Partyfassade. Kommt das raus, wenn man Rio und Malle mischt? Zumindest ist es symptomatisch, dass ausgerechnet ein extravaganter Läufer mit lila Haaren auf die Musik anspringt, während die meisten erschöpften Läufer nur noch den Kopf in Richtung Klangteppich von „Ten on Tons & Friends“ drehen können. Als Anne Breick von ihren dirigentischen Gesten kurz ablässt, stoppt auch die Band. Mit Stille lässt sich auch spielen. Doch solange der letzte Läufer noch nicht im Ziel angekommen ist, kennt man bei den  Frankfurter Streckenfesten nur eines: volle Power.

Die Streckenfeste sind mal rockig, mal wild und auch mal klassisch – aber immer eine Wucht. Ein Streifzug durch die musikalische Seite des Marathon